Jens Spahn bedauert den gut zwanzigjährigen Rückstand des digitalisierten Gesundheitswesens und möchte bis spätestens 2021 die elektronische Patientenakte anbieten. Warum ist das Projekt bisher gescheitert? Karsten Glied, Geschäftsführer der Techniklotsen GmbH, hat sich zu den Aussagen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zur Digitalisierung des Gesundheitswesens geäußert:
Karsten Glied: „Die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens hat vor Jahren versucht, ein digitales Produkt auf den Markt zu bringen, und ist daran kläglich gescheitert, da sich die Verantwortlichen völlig in der technischen Umsetzung verloren haben. Hier fehlen einfach die digitalen Möglichkeiten, um auf den schnelllebigen Markt zu reagieren. Jetzt übernehmen private Anbieter, die sich mit großen Krankenhäusern und -kassen verbünden. Meiner Meinung nach sollte die Bundesregierung folgende Maßnahmen ergreifen: einen Austauschstandard definieren, eine Sicherheitsarchitektur vorgeben und sinnvolle Prüfstandards etablieren. Diese gilt es aufgrund der sensiblen Daten extrem streng zu überwachen. Statt sich an einem eigenen Produkt zu versuchen, hätten die Verantwortlichen diese Schritte eigentlich bereits vor 20 Jahren umsetzen müssen. Auch die Vernetzungsstrukturen und DSGVO-konforme Ressourcen sollten zur Verfügung stehen. Dabei sind die Landesdatenschutzbeauftragten in der Pflicht, vorbeugende Kontrollen auszuführen – wenn es erst mal zu Datenabflüssen kommt, ist es bereits zu spät. Fest steht also: Milliarden wurden für das Projekt digitale Gesundheitsakte verschwendet. Krankenkassen sollen ruhig mit IT-Anbietern kooperieren, wichtig ist, dass die öffentliche Hand die Standards vorgibt und den Bürgern ein optionales Verfahren geboten wird, bei dem sie ohne bürokratische Hürden mit ihren Daten von einer Krankenkasse zur anderen wechseln können.“
Im Kampf gegen den Fachkräftemangel steht nun unter anderem die Einführung einer Online-Sprechstunde als neue Lösung im Raum. Sehen Sie die Telemedizin auch als großen Fortschritt?
„Erstes Ziel ist natürlich die Ausbildung neuer Fachkräfte. Aktuell übersteigt der Bedarf die Zahl der Bewerber um ein Vielfaches. So gilt es ganz besonders auch die digitalen Möglichkeiten auszunutzen: Telemedizin kann den Alltag eines Patienten erheblich erleichtern, gerade im ländlichen Bereich, bei Berufstätigen mit Kindern, pflegenden Angehörigen oder chronisch kranken Menschen. Auch die Praxen, die heute teilweise lange Wartelisten für einen Termin haben, und Ärzte, die bei Hausbesuchen durch lange Autofahrten wertvolle Zeit verlieren, werden auf diese Weise entlastet. Des Weiteren können Mediziner vorab filtern: Wer muss persönlich in die Praxis kommen, wer kann zu Hause bleiben? Wer steckt die anderen im Wartezimmer an oder droht sich selbst Schlimmeres einzufangen? Oft haben die Patienten nur eine Rückfrage, benötigen Beratung oder wollen einen Befund besprechen. Dazu ist kein persönlicher Termin notwendig. Der Erfolg der Telemedizin hängt allerdings stark von den Ärzten ab. Sicher fehlt der persönliche Kontakt, es ist keine direkte körperliche Untersuchung möglich und Ärzte können nicht akut handeln. Zudem muss die technische Ausstattung gegeben sein. Wer keinen Internetzugang hat, steht in der digitalen Transformation hinten an. Dennoch: Als zusätzlicher Kommunikationskanal bietet die Fernbehandlung ganz neue Möglichkeiten. Der notwendige Schritt Richtung Digitalisierung wird durch die gesetzliche Änderung zur Telemedizin unterstützt und bringt zahlreiche Vorteile für alle Akteure sowie für die Versorgung der Patienten mit sich. Ärzte können sich auf die Behandlung und Diagnose konzentrieren und verlieren keine unnütze Zeit.“
Wie groß ist das Netzproblem? Was hängt davon ab?
„Alles. Ein digitalisiertes Gesundheitswesen ist ohne einen großflächigen Ausbau der Netze unmöglich, denn es fängt mit kleinen Dingen wie einer schnellen Internetverbindung an, um später Großes zu bewirken. Die aktuelle Technologie hält den digitalen Anforderungen kaum stand, was beispielsweise die Datenüberwachung angeht. Und auch wenn 5G vor der Tür steht, wie Herr Spahn sagt, dürfen die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft nicht vergessen, die Sozial- und Gesundheitsbranche direkt einzubinden. Der Breitbandausbau ist durch 5G nicht zu ersetzen und wer weiß, wann die neue Technologie im ländlichen Bereich überhaupt ankommt? Der Netzausbau bringt gar nichts, wenn die Arztpraxen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nicht von Anfang an berücksichtigt werden und der technologische Fortschritt Einzug hält. Außerdem gilt es die Verschlüsselungsproblematik zu beachten: Welche Technologien werden bei der Übertragung genutzt? Die Bundesregierung muss an dieser Stelle die Regeln vorgeben. Ärzte sollten beispielsweise genau wissen, mit welchen Tools sie die Telemedizin umsetzen dürfen, ohne dass Daten gefährdet sind. Der Gesetzgeber ist in der Pflicht, die Selbstverwaltung anzutreiben und Standards festzulegen.“
Herr Spahn äußert sich auch zur elektronischen Gesundheitskarte, bei der er aktuell keinen Mehrwert sieht. Welche Alternativen sehen Sie hier?
„Auch elf Jahre nach der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte bietet diese kaum digitale Lösungen. Hinzu kommt, dass die Arztpraxen oft nicht optimal ausgestattet sind, was die Auslesemöglichkeiten der Karten und somit die Nutzung des vollen Funktionsumfangs angeht. Trotz vielversprechendem Ansatz wurden die bisher in dieses Projekt investierten Milliarden verschwendet. Es müssen also neue Lösungen her: Warum gibt es beispielsweise nicht ein Ausweisdokument wie den elektronischen Personalausweis, das uns als Person auch in Arztpraxen legitimiert? Wir benötigen ein digitales Ausweissystem – keine extra Karte für das Gesundheitswesen, auf der sowieso nur wenige Daten gespeichert sind. Entweder gibt es eine vernetzte Sozialbranche oder die Angst vor technischen Lösungen und Datenverlusten ist so groß, dass es gar nicht erst so weit kommt. Leider hat die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen dafür gesorgt, dass jeder Arzt, Apotheker, jede Krankenkasse oder andere Organisation ihre eigene Karte fordert. An dieser Stelle hat die Politik sich bisher wenig selbstbewusst gezeigt und ohne viel Gegenwehr vor den divergenten Interessen der Selbstverwaltung kapituliert.“