Europa steht vor einer Kommunikationskrise. Die META-NET-Studie „Europe’s Languages in the Digital Age“, die im vergangenen Jahr 31 europäische Sprachen unter die Lupe genommen hat, zeigt: Die meisten Sprachen Europas sind vom digitalen Aussterben bedroht. Für sie gibt es keine ausreichende informationstechnologische Unterstützung, um ihr Überleben in der digitalen Welt zu sichern. Unsere Sprachenvielfalt ist unbestreitbar ein integraler Bestandteil des europäischen Kulturerbes, den es zu erhalten gilt. Sie beeinträchtigt aber massiv internationale Handels- und Finanzbeziehungen und erschwert die europäische Integration und Binnenkommunikation. Trotz enormer Ausgaben für Übersetzungen ist im Moment nur ein Bruchteil des weltweiten Wissens in allen europäischen Sprachen verfügbar. De facto wird sogar in den europäischen Institutionen erheblich weniger übersetzt als die Regularien vorsehen. EU-Bürger können wichtige Probleme, die uns alle betreffen, nicht grenzübergreifend diskutieren: Debatten über die Finanzkrise, z.B. zwischen Griechen und Deutschen, finden nur über lokale Medien und Politiker statt – Kanäle, die nicht immer das gegenseitige Verständnis fördern. Das Internet und soziale Netzwerke verändern den Prozess politischer Entscheidungsfindungen fundamental, doch zurzeit profitiert die EU kaum davon. Dänen diskutieren nicht mit Franzosen über die Vor- und Nachteile der Atomenergie gegenüber Energiegewinnung aus fossilen Ressourcen und die EU-Bürger im Mittelmeerraum führen keinen internationalen Dialog über die möglichen Konsequenzen einer gemeinsamen Einwanderungspolitik, der auch ihre Nachbarn im Norden mit einbeziehen sollte.
Ein Europa ohne Sprachbarrieren zu errichten, in dem Informationen und Ideen ungehindert verbreitet werden und neue internationale Märkte entstehen können ohne die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas zu gefährden – das ist das Ziel von META-NET. Dieses europäische Exzellenz-Netzwerk, das aus 60 Forschungseinrichtungen in 34 Ländern besteht, hat eigens zu diesem Zweck die Strategische Forschungsagenda für das mehrsprachige Europa 2020 (SRA) entwickelt. Sie ist das Ergebnis von mehr als zwei Jahren intensiver Zusammenarbeit von über 200 Forschern aus Wissenschaft und Industrie sowie Sprachexperten, die in dem Forschungsplan darlegen, wie durch gezielte Investitionen in Sprachtechnologie signifikante wirtschaftliche Vorteile erzielt werden können.
Die SRA zeigt, wie Europa seine sprachliche und kulturelle Vielfalt als Wettbewerbsvorteil nutzen kann. Die europäische Forschung erfüllt mit ihrer Kompetenz im Bereich mehrsprachiger Technologien die besten Voraussetzungen, um eine führende Rolle in der bevorstehenden IT-Revolution zu spielen. Die nächste Generation der Technologie, die mit Sprache, Wissen und Emotionen umgehen kann, wird enorme Auswirkungen auf Arbeit und Gesellschaft haben. Apples mobiler Assistent Siri und Googles sprachgesteuerte Suche sind nur die ersten Vorboten dieses Wandels: Sehr bald schon wird die menschliche Sprache das bevorzugte Kommunikationsmittel zwischen Mensch und Maschine sein. Zu diesem Zweck wird Software für verschiedene Sprachen benötigt, die in diversen Diensten und auf den verschiedensten Geräten einsetzbar ist. Sprachtechnologie ermöglicht bereits heute den Zugriff auf das menschliche Wissen, das in digitaler Form im Web gesammelt ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Flut an digitalen Daten (Big Data) semantisch durchsucht werden kann und für weitere neue Anwendungen analysierbar und nutzbar wird.
Die META-NET-Forschungsagenda sieht drei große Prioritätsthemen vor, auf die sich die Forschung in Europa konzentrieren sollte:
- Die Translingual Cloud bündelt verschiedenste Übersetzungsdienste für alle europäischen Bürger, Unternehmen und Organisationen. Die Translingual Cloud wird nicht nur hochqualitative, präzise und zuverlässige Ergebnisse durch maschinelle Übersetzung gesprochener und geschriebener Sprache bereitstellen. Sie wird auch die Unterstützung und Expertise menschlicher Übersetzer und Dolmetscher in ihre Dienste einbeziehen.
- Das zweite Prioritätsthema, Social Intelligence und e-Participation, zielt auf die Entwicklung von Ressourcen und Technologien ab, mittels derer das gegenseitige Verständnis und der Dialog zwischen Menschen verschiedener Sprachgemeinschaften gefördert wird. Sprachtechnologische Methoden sollen es Bürgern, Kunden und Konsumenten ermöglichen, durch E-Partizipation an der Vorbereitung, Auswahl und Beurteilung kollektiver Entscheidungsprozesse teilzunehmen.
- Socially Aware Interactive Assistants sind das Ziel des dritten Forschungsschwerpunkts. Intelligente interaktive digitale Assistenten werden durch Interaktion in gesprochener Sprache in der Lage sein, auf die Gegebenheiten der Umgebung zu reagieren und sich den spezifischen Bedürfnissen und Vorlieben ihrer Nutzer sowie vielfältigen Situationen der Benutzung anzupassen.
Darüber hinaus empfiehlt META-NET die Entwicklung einer europäischen Service-Plattform für Sprachtechnologien, die den Bürgern einen einfachen Zugang zu den Diensten ermöglicht und der Sprachtechnologie- und Sprachdienstleistungsindustrie einen Distributionskanal zur Verfügung stellt.