Fachbeiträge
Nachhaltigkeit im Spannungsfeld von Wissensgesellschaft und Demografie
von Thomas Auer
Nachhaltigkeitsberichte belegen ökologische, soziale und wirtschaftliche Engagements, die Unternehmen im Umgang mit internen und externen Ressourcen eingehen. Sie befriedigen die gesteigerten Informationsbedürfnisse von Stakeholdern. Die Berichterstattung konzentriert sich auf Kenndaten und somit auf harte Fakten. Die wichtigste Unternehmens-Ressource, der weiche Faktor Wissen, wird jedoch ungeachtet der demografischen Entwicklung nicht nachhaltig gepflegt. Weshalb? Weil Wissen nicht gemessen werden kann? Ein Derivat der Balanced Scorecard von Thomas Auer relativiert diesen Einwand.
Von Thomas Auer
Inhaltsübersicht:
- Nachhaltigkeit setzt auch die rechtzeitige Sicherung des Wissens voraus
- Gesteuerter Transfer des impliziten Wissens
- Zielsetzung und Erfolgsmessung von Wissen mit der Balanced Scorecard
- Wissensziele definieren, Strategien bestimmen
- Fazit
Nachhaltigkeitsberichte belegen ökologische, soziale
und wirtschaftliche Engagements, die Unternehmen im Umgang mit internen und
externen Ressourcen eingehen. Sie befriedigen die gesteigerten Informationsbedürfnisse
von Stakeholdern. Die Berichterstattung konzentriert sich auf Kenndaten und
somit auf harte Fakten. Die wichtigste Unternehmens-Ressource, der weiche Faktor
Wissen, wird jedoch ungeachtet der demografischen Entwicklung nicht nachhaltig
gepflegt. Weshalb? Weil Wissen nicht gemessen werden kann? Ein Derivat der Balanced
Scorecard relativiert diesen Einwand.
Die Nachhaltigkeitsberichterstattung ergänzt die vor 20 Jahren eingeführten
Umweltberichte. Ergänzend zu den ökologischen Kriterien zeigen ganzheitliche
Nachhaltigkeitsberichte auch Ergebnisse von wirtschaftlichen und sozialen Aspekten
auf. Neben den Resultaten der abgelaufenen Berichtsperiode wird auch die künftige
Nachhaltigkeitsgestaltung festgehalten.
So umschreibt ein Leitsatz, welcher sich an das Unternehmensleitbild anlehnt,
beim Käsehersteller Baer AG die Perspektiven der Personalpolitik: „Die
stetige Weiterentwicklung der fachlichen und sozialen Kompetenz unserer Mitarbeitenden
soll zu persönlicher Zufriedenheit und zu erstklassigen Leistungen führen“
[1]. Was sind die weiteren Voraussetzungen, um erstklassige
Leistungen zu erreichen? Der bestimmende Treiber ist das intellektuelle Kapital
(Summe des individuellen impliziten Wissens und des organisationalen expliziten
Wissens), das maßgeblich zur Eigenständigkeit von Marktleistungen
und zur Innovationskraft beiträgt. Der Wissensentstehungsprozess hilft,
diese Wissenskategorien zu verstehen.
Der Entstehungsprozess des Wissens |
Informatikanwendungen sind effiziente Instrumente für die Stufen 1 bis
3. Damit indes Wissen entstehen kann, müssen Informationen in einen Kontext
eingebettet werden. Um aktuelle Wissensbestände zu erweitern, zu erneuern
oder zu berichtigten, steht der Mensch als Instrument im Fokus, denn nur er
kann den Entwicklungsprozess von Informationen zu Expertenwissen verarbeiten:
Erinnern > Beobachten > Erkennen > Begreifen > Kombinieren >
Schlussfolgern etc. sind menschliche Tätigkeiten in der Wissensentwicklung.
Auf den obersten Stufen resultieren sie als (menschengebundene) Erfahrung und
Expertise. Mitarbeitende mit diesen Fähigkeitsmerkmalen sind schwer zu
ersetzen.
Derartige Wissensträger müssen erst einmal identifiziert und durch
adäquate Anreize gebunden werden. Denn deren implizites Wissen ist es,
wo sich die Kernkompetenz eines Unternehmens katalysiert [2].
„Wissen hat seinen Ort zwischen zwei Ohren und nicht zwischen zwei Modems",
so ein Zitat von Fredmund Malik [3]. Solcherlei Anreize sollten
auch das Ziel einbeziehen, die Bereitschaft zur Wissensteilung zu fördern.
Nachhaltigkeit setzt auch die rechtzeitige Sicherung des Wissens voraus
Eine große Herausforderung in der Wissenssicherung ist die demografische
Entwicklung, in welcher der Pillenknick das auffallende Merkmal ist. Die effektive
demografische Zeitbombe ergibt sich durch die Fortsetzung bzw. Beschleunigung
zweier großer Trends: dem Rückgang der Geburtenzahlen und dem Anstieg
der Lebenserwartung. Gemäß Dr. Thomas Held, Direktor von Avenir Suisse,
muss das Immigrationsniveau auf dem heutigen Stand gehalten werden, d.h. das
Wanderungssaldo muss bei ca. plus 30.000 bleiben, wenn die Arbeits- und Gesamtbevölkerung
der Schweiz bis ins Jahr 2030 nicht sinken soll.
Demografie der Schweizer Wohnbevölkerung (repräsentativ für alle Industrienationen) |
Dies hat für die wissensorientierte Nachhaltigkeit Konsequenzen: Unternehmen
mit wissensbasierten Marktleistungen tun gut daran, die Transparenz über
ihre relevanten Wissensträger und die Altersstruktur des Personalstamms
herzustellen. Wissensträger sind oft langjährige (d.h. eher etwas
ältere) Mitarbeitende. Zeigt die Analyse eine vergleichbare Altersstruktur
wie die der erwerbstätigen Schweizer Bevölkerung, so werden in absehbarer
Zeit überdurchschnittlich viele Wissensträger mitsamt ihrer Erfahrung
und Expertise das Unternehmen verlassen. Das nachhaltige Ziel muss demnach rechtzeitige
Wissenssicherung heißen.
Dass implizites Wissen nur durch Interaktionen transferiert werden kann, ist
unbestritten. Dafür werden Interaktionsgelegenheiten geschaffen (Kaffee-Ecken,
Sportklubs, Firmenausflüge etc). Auf einer höheren Stufe werden durch
den Einbezug der identifizierten Wissensträger die Interaktionen mit Phaseout-,
Coaching- und Mentoring-Programmen bewusst gesteuert.
Gesteuerter Transfer des impliziten Wissens
Für den systematischen Transfer impliziten Wissens wurden beispielsweise
die Prozessmodelle SET (Swissair Experience Transfer) [4]
und KEEP (Know How, Expertise & Experience Preservation) [5] entwickelt.
In beiden Ansätzen werden in der Aufbau- und Ablauforganisation Wissensnetzwerke
geschaffen, die sich aus identifizierten Wissensträgern (Senioren) und
Nachswuchskräften (Junioren) zusammensetzen: Unternehmensspezifisches implizites
Wissen übermittelt der Senior dem Junior; aktuellstes fachliches Wissen
geht vom Junior zum Senior.
Solche Modelle haben auch Einfluss auf die Personalentwicklung: Den Beteiligten
wird durch die Projektarbeit eine neue Arbeitsqualität geboten. Ein Erfolg
neuer Organisationsformen hängt von der Akzeptanz einer wissensorientierten
Unternehmenskultur ab: Funktionale und hierarchische Barrieren müssen abgebaut
und durch eine High-Trust-Atmosphäre ersetzt werden. Die primäre Herausforderung
ist deshalb nicht die Steuerung des Wissenstransfers an sich, sondern Widerstände
und Zielkonflikte abzubauen. Letztlich sollen Wissensmanagement-Projekte auch
bewertet werden. Da sich diese nicht direkt messen lassen, müssen aussagefähige
Indikatoren-Systeme eingesetzt werden.
Zielsetzung und Erfolgsmessung von Wissen mit der Balanced Scorecard
Aus dem Bedürfnis, nicht nur vergangenheitsbezogene Bewertungen, sondern
auch Perspektiven aufzeigen zu können, entstand die Balanced Scorecard
(BSC) [6]: ein Steuerungs- und Kontrollsystem, das die strategische
und operative Planung verbindet und Unternehmen aus Sicht der wichtigsten Perspektiven
betrachtet. Diese werden durch strategische und operative Zielsetzungen, daraus
abgeleiteten konkreten Kennzahlen und einem Zeithorizont ausgedrückt. Kaplan
und Norton [7] beschreiben vier Perspektiven:
- Finanzperspektive: Wie wollen wir gegenüber Teilhabern auftreten, um finanziell Erfolg zu haben?
- Kundenperspektive: Wie sollen wir gegenüber Kunden auftreten, um unsere Vision zu verwirklichen?
- Interne Prozessperspektive: In welchen Geschäftsprozessen müssen wir die besten sein, um unsere Teilhaber und Kunden zu befriedigen?
- Innovationsperspektive: Wie können wir unsere Veränderungs- und Wachstumspotenziale fördern, um unsere Vision zu verwirklichen?
Diese ursprünglichen Perspektiven werden für spezifische Fragestellungen
bedürfnisoptimiert angepasst und erweitert. Die flexible Anpassungsfähigkeit
macht die Balanced Scorecard zu einem attraktiven, polyvalent einsetzbaren Instrument.
Für die Anwendung der BSC bei Wissensmanagement-Projekten müssen die
Perspektiven adaptiert werden. Die Wissensperspektiven orientieren sich an den
operativen Bausteinen des Wissensmanagements, wie sie von Probst et al. [8]
aus konkreten Wissensprojekten von Unternehmen abgeleitet wurden. Das Baustein-Modell
bettet sechs Kernprozesse in einen koordinierenden Rahmen ein. Auf der strategischen
Ebene besteht das Modell aus den Bausteinen Wissensziele und Wissensbewertung;
diese sind zentral für die Anwendung der BSC.
Modifiziertes Wissensbausteinmodell nach Probst et al. |
Die strategischen Ziele des Wissensmanagements, die für die einzelnen
Perspektiven angeführt werden, sind individuell zu definieren: Jede Organisation
muss für sich geeignete Strategien aus den Unternehmenszielen ableiten.
Der Baustein der Wissensidentifikation (A) wird nicht als Perspektive für
die BSC vorgesehen, da die Wissenstransparenz in einem BSC-basierten Managementprozess
bereits vorhanden sein muss. Die Bausteine Wissenserwerb und Wissensentwicklung
werden in einer Perspektive des Wissensaufbaus (B) zusammengefasst.
Da sich alle Aktivitäten in der Wissensarbeit letztlich im Unternehmenserfolg
niederschlagen müssen, ist eine Finanzperspektive neben den genannten Wissensperspektiven
opportun. Damit besteht eine Balanced Scorecard für die Steuerung und Erfolgskontrolle
von Wissensmanagement-Projekten aus fünf Perspektiven. Die vier verbleibenden
Wissensperspektiven werden nachfolgend kurz beschrieben.
Balanced Scorecard für Wissensmanagement-Projekte |
Perspektive des Wissensaufbaus
Diese Perspektive befasst sich mit dem Wissenserwerb und der Wissensentwicklung.
Sie zielt auf einen Auf- und Ausbau der organisationalen Wissensbasis ab. Das
strategische Ziel befasst sich mit dem Erwerb externen Wissens und der Entwicklung
des organisationalen Wissens: der Aufbau strategischer Allianzen, der Erwerb
von Wissensprodukten oder das Anwerben von Experten. Operative Umsetzungen können
der Ausbau von Forschung und Entwicklung, Forschungskooperationen und Lessons-Learned-Programme
sein. Auch der Aufbau von Strukturen zur Förderung des organisationalen
Lernens, wie z.B. Think Tanks oder Lernarenen, können Elemente dieser Perspektive
sein.
Perspektive der Wissensnutzung
Diese Perspektive beschäftigt sich mit dem produktiven Einsatz organisationalen
Wissens. Dies betrifft die Nutzbarmachung und die Nutzung der organisationalen
Wissensbasis. Strategien dieser Perspektive beschäftigen sich mit der Erschließung
des Expertenwissens über Wissenslandkarten, Gelbe Seiten oder Expertenverzeichnisse.
In dieser Perspektive werden auch Methoden und Prozesse entwickelt, die zur
aktiven Nutzung neuen Wissens motivieren. Dies kann durch Anreizsysteme oder
über die Bereitstellung geeigneter Infrastruktur geschehen, die einen Austausch
von Ideen und Erfahrungen fördern. Dazu gehören Intranet und Datenbanken
sowie eine bessere Nutzung von Patenten und Lizenzen.
Perspektive der Wissens(ver)teilung
Diese Perspektive befasst sich mit der optimalen Verteilung des Wissens im
Unternehmen und den Maßnahmen, die diese Verteilung sicherstellen. Dazu
gehört zum einen die Sicherstellung geeigneter Verteilungsstrukturen wie
z.B. Intranet oder Groupware-Systeme, zum anderen gehört dazu auch der
Transfer von Best Practices, die Einführung von Anreizsystemen sowie der
herkömmliche Weiterbildungsplan.
Perspektive der Wissensbewahrung
Diese Perspektive beschäftigt sich mit der dauerhaften Speicherung des
Wissens. Ziele, die hier verfolgt werden, sind die elektronische Datenerfassung,
die Erschließung und Aufbereitung (Indizierung, Systematisierung) und
die gezielte Aussonderung veralteten Wissens. Einen besonderen Stellenwert genießt
die Bewahrung des impliziten Wissens, das menschengebunden und somit nicht dokumentierbar
ist. Wissensbewahrung heißt in diesem Kontext, implizites Wissen vom Individuum
zu lösen, so lange die entsprechenden Wissensträger (noch) verfügbar
sind.
Wissensziele definieren, Strategien bestimmen
Die Definition von Wissenszielen ist der entscheidende Schritt bei der Erarbeitung
einer BSC, da durch diese Bestimmung die organisationalen Lernprozesse eine
Richtung erhalten und Erfolg oder Misserfolg von Wissensmanagement-Projekten
überprüfbar werden. Wissensziele sind eine bewusste Ergänzung
herkömmlicher Planungsaktivitäten. Aus den Unternehmenszielen werden
normative, strategische und operative Wissensziele definiert. Bei den normativen
Wissenszielen geht es um eine förderliche Unternehmenskultur: Wissensleitbild,
Vision und das Commitment der Unternehmensführung werden deklariert.
Aus den strategischen und operativen Wissenszielen werden so genannte Key Performance
Indicators (KPI) definiert. Dies sind Schlüsselkennzahlen: Messgrößen,
Messzeitpunkte, Verantwortlicher, Datenherkunft etc. Bei der Messung im Wissensmanagement
ist Kreativität gefordert, da Kennzahlen für diese Anwendung noch
nicht etabliert sind. Dennoch lassen sich Wissensziele messen oder bewerten,
denn Zielerreichung führt immer zu einer Veränderung und diese manifestiert
sich in messbaren Einheiten [9].
Bei der Zielformulierung ist der Betrachtungswinkel in der Regel auf den einzelnen
KPI festgelegt und somit aus dem Gesamtzusammenhang isoliert. Dementsprechend
müssen die KPI, sind sie einzeln einmal definiert, auf ihre Abhängigkeit
überprüft werden. Ursache und Wirkung, Beeinflussung etc. müssen
festgestellt werden. Dabei stellt sich heraus, ob Ziele sinnvoll definiert und
klar formuliert wurden. Ist dies nicht der Fall, lassen sich Kennzahlen nur
schwer finden.
Fazit
Intellektuelles Kapital wird durchweg als wichtig(st)e Unternehmensressource
beschrieben. Trotzdem wird es in Nachhaltigkeitsberichten allenfalls in Form
der Fortbildungsinvestitionen in der Rubrik Soziales behandelt. Die Ressource
Wissen ist jedoch ein wirtschaftlicher Faktor, der sich auch als Kernkompetenz
umschreiben lässt und aus einer Synthese von Know-how und Innovationspotenzial
besteht. Letzteres wird vorrangig durch die Erfahrung und Expertise der Mitarbeitenden
geprägt. Einerseits können entsprechende Wissensträger durch
materielle und immaterielle Anreize vor einer Abwerbung abgehalten werden. Andererseits
machen die demografischen Fakten Wissensverluste prognostizierbar. Es empfiehlt
sich, der vergänglichen Ressource Wissen (auch außerhalb der Nachhaltigkeitsberichterstattung)
einen gebührenden Stellenwert beizumessen, zumal dieser weiche Faktor mit
akkuraten Indikatoren messbar ist.
Literatur:
[1] „Sorgfalt als Pflicht“. Nachhaltigkeitsbericht
2001 der Baer AG.
[2] Hunter, L.: Intellectual Capital: Accumulation and Appropriation.
Melbourne Instit. Working Paper No. 22/2002
[3] Malik, F.: „Ich weiß, was Du nicht weißt“.
In: Handelsblatt vom 29.09.2000.
[4] Mölleney, M: Swiss Experience Transfer. www.moelleney.com/Slides/SET.pdf
[5] Auer, T.: Know How, Expertise & Experience Preservation.
www.hrm-auer.ch/PDF_Downloads/AllKEEP.pdf
[6] Nohr, H.: Steuerung und Erfolgsmessung im Wissensmanagement
mit Balanced Scorecards. In: wissensmanagement
[7] Kaplan, R./Norton, D.: Balanced Scorecard. Strategien
erfolgreich umsetzen. Stuttgart 1997.
[8] Probst, G./Raub, S./Romhardt, K.: Wissen managen. 3.
Aufl. Wiesbaden 1999.
[9] Auer, T.: Intellectual Capital Portfolio (ICP). Leitfaden
von Auer Consulting & Partner.
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in: Schweizer Arbeitgeber vom 25.09.2003.
Diese Artikel könnten Sie auch interessieren
Editorial Weiterbildung
Leben heißt (weiter-)bilden
von Oliver Lehnert
Praxis Wissensmanagement Grundlagen & Theorien
Nachhaltigkeit und die Macht der Vielfalt
von Roland Spinola
Fachbeitrag Wissensbilanz
Steuerung und Erfolgsmessung im Wissensmanagement mit Balanced Scorecards
von Holger Nohr
Fachbeitrag Interview
Der Skandia Navigator steuert nicht nur das Unternehmensschiff
von Gabriele Vollmar
Fachbeitrag Social Media
Das Ende von Wissen am Fließband
von Willms Buhse, Axel Dornis