Fachbeiträge
Die richtige Balance zwischen stillem und explizitem Wissen
von Dr. Peter Schütt
Vielerorts geht man fälschlicherweise davon aus, dass das beste Wissensmanagement eines ist, bei dem möglichst viel des stillen Wissens aus den Köpfen der Mitarbeiter dokumentiert wird. Da der Aufwand für ein Unternehmen dafür jedoch nahezu unendlich ist, wäre das der sichere Weg in die Pleite. Peter Schütt stellt ein neues, praxisnahes Modell vor, das einen alltagstauglichen Mittelweg weist.
Von Peter
Inhaltsübersicht:
- Sollte Wissen immer dokumentiert werden?
- Stilles Wissen – nur ein sperriger Begriff?
- Das HANSE-Modell
- Das HANSE-Modell in der Praxis
- Literatur
Vielerorts
geht man fälschlicherweise davon aus, dass das beste Wissensmanagement
eines ist, bei dem möglichst viel des stillen Wissens in den
Köpfen der Mitarbeiter dokumentiert und allgemein zugänglich
in Datenbanken abgelegt wird. Da der Aufwand für ein Unternehmen
dazu jedoch nahezu unendlich ist, wäre das der sichere Weg
in die Pleite. Aber wie lässt sich ein sinnvoller Mittelweg
finden? Ein neues, praxisnahes Modell zeigt einen alltagstauglichen
Lösungsweg auf.
Sollte Wissen immer dokumentiert werden?
Reengineering
war die letzte Management-Welle in der alten Welt vor dem Beginn
von E-Business. Der Versuch, Unternehmen als mechanisches System
zu verstehen, hat zwar mancherorts geholfen, angestaubte Prozesse
aktuellen Gegebenheiten anzupassen, hat aber beim Downsizing auch
viel Wissen und viele Wissensaustauschstrukturen vernichtet. E-Business
war im Business Process Reengineering (BPR) noch nicht vorgesehen
und trifft die meisten Unternehmen deshalb heute unvorbereitet.
Durch die überraschend hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit und
-tiefe wird der Effekt verstärkt.
Die wichtigste
damit verbundene neue Anforderung an die Unternehmen ist die bisher
unbekannte Geschwindigkeit, mit der heute und in Zukunft Geschäfte
abgewickelt werden: Die Gartner Group hat herausgefunden, dass man
1997 noch zufrieden war, wenn geschäftliche Anfragen innerhalb
von einem halben Tag ihren Adressaten erreichten; dieser Zeitraum
ist in nur 2 Jahren bis 1999 auf 15 Minuten gesunken. Das erzeugt
einen entsprechenden Druck auf alle Unternehmen, denn die Zeit zu
reagieren sinkt parallel. Im Zweifelsfall muss eine Kundenanfrage
beantwortet sein, bevor die nächste Tunneldurchfahrt die Handy-Verbindung
abschneidet. Die Zeit zur Recherche schrumpft dramatisch. Die einfachste
Art darauf zu reagieren ist, das notwendige Wissen möglichst
präsent zu haben oder zumindest die Möglichkeit zu besitzen,
passende Informationen nur einen Mausklick entfernt zu finden.
Wissensmanagement
ist der Schritt, Ihr Unternehmen fit dafür zu machen. Allerdings
wird es allzu oft missverstanden als eine Methodik, jegliche in
irgendeiner Form wichtige Information in Wissensdatenbanken im Intranet
abzulegen. Leider gibt es eine Reihe von IT-Anbietern und Beratungsunternehmen,
die mangels entsprechender Produkte oder Lösungskonzepte alte
Office-Pakete, Publishing- oder klassische Dokumentenmanagement-Systeme
als die ultimative Wissensmanagement-Lösung anbieten.
Tatsächlich
können solche Systeme Teil einer Lösung sein. Vergessen
wird dabei aber, dass dieser Ansatz auch schon im BPR verfolgt wurde:
den Prozess sauber definieren, das zugehörige Wissen dokumentieren,
in einer Datenbank ablegen und damit allen zur Verfügung stellen.
Vermutlich haben auch Sie Ihre BPR-Erfahrungen gemacht, und wenn
Sie Glück hatten, gehören Sie zu den ca. 30% der Unternehmen,
die ihr BPR-Projekt erfolgreich abgeschlossen haben. Alle anderen
sind genau an diesem Punkt gescheitert oder stecken geblieben: Das
Geschäftswissen ist viel zu dynamisch und komplex, um vollständig
in Datenbanken abgelegt werden zu können. Dass es in einzelnen
Bereichen funktioniert etwa einer Telefon-Hotline zu einer
limitierten Anzahl von Personalcomputern ist dabei kein Widerspruch.
Stilles Wissen nur ein sperriger Begriff?
Wer etwas cleverer
war oder die besseren Berater hatte, hat verstanden, dass es neben
dem expliziten, kodierten und damit auch dokumentierten Wissen noch
eine andere Form gibt: das stille Wissen (tacit knowledge), das
in den Köpfen der Mitarbeiter steckt. Dieses kann man natürlich
nicht über eine Suchmaschine finden wobei Yellow Pages
ein Ansatz hierzu sind und man kann es auch nicht einfach
verteilen, denn es lässt sich nicht an eine E-Mail anhängen.
Auch wenn das Konzept einfach erscheint, so war die in unseren zahlreichen
Wissensmanagement-Projekten im fortgeschrittenen Projektverlauf
auftauchende Frage "... und wie kriegen wir das nun in eine
Datenbank?" immer ein klares Indiz, dass die Notwendigkeit,
stilles Wissen ganz anders zu managen letztlich doch nicht verstanden
oder akzeptiert worden war.
Die von Michael
Polanyi [1] in seinen
Vorlesungen an der Yale Universität im Jahr 1962 eingeführte,
höchst sinnvolle Trennung der beiden Wissenszustände hat
sich damit als für die Praxis zu sperrig erwiesen. Die Frage
nach der richtigen Balance zwischen stillem und explizitem Wissen
in einem Geschäftsprozess ließ sich nicht einfach genug
beantworten.
Aus diesem
Grund hat Dave Snowden, Europa-Direktor des Instituts für Knowledge
Management, Polanyis Konzept weiterentwickelt. Sein Modell heißt
als Mnemonik HANSE (im englischen Sprachraum ASHEN), wobei die Buchstaben
für
- Heuristiken
- Artefakte
- natürliche Begabung
- Skills und
- Erfahrungen
stehen [2].
In diese Komponenten zerlegt, lässt sich Wissen wesentlich
einfacher aufdecken und handhaben.
Mit dem HANSE-Modell wird Wissen in fünf Komponenten zerlegt, die in der alltäglichen Praxis leichter greifbar sind. Damit wird es einfacher, Wissensflüsse zu bewerten oder zu optimieren. |
Heuristiken
sind oft einfache Daumenregeln, nach denen Ihr Geschäft läuft.
Beispiele wären "Bei Beträgen unter x DM kann jeder
Abteilungsleiter selbst entscheiden" oder "Willst Du Unterstützung
vom Chef für ein komplexes Projekt, frage ihn nie am Montag".
Manche Heuristiken sind z.B. als Verfahrensanweisung dokumentiert,
andere kennt man im Unternehmen seit Jahren, ohne dass sie irgendwo
niedergeschrieben sind. Damit können sie sowohl explizites
als auch stilles Wissen des Unternehmens sein.
Ähnlich
wie im komplexen Straßenverkehr, wo einfache, leicht merkbare
Regeln helfen, sind Heuristiken im Geschäftsalltag ideal, um
mit der zunehmenden Komplexität umzugehen und Wissen zu verbreiten.
So befähigt können Entscheidungen durch Mitarbeiter auch
bei unsicherer Informationslage deutlich schneller fallen
ein wichtiges Kriterium, um im Zeitalter von E-Business vorne mitzuspielen.
Artefakte sind
dokumentierte Wissensbausteine und damit immer explizit. Das heißt
aber nicht zwingend, dass diese im IT-System auf Datenbanken abgelegt
sein müssen. Als Beispiel sei ein Erlebnis bei einem unserer
Projekte in einer Supermarktkette angeführt: In einem der Shops
wurde zwischen dem Leiter und dem Disponenten diskutiert, welche
täglichen Frischwaren in welchen Mengen vor dem variablen Feiertag
1. Mai zu bestellen wären. Plötzlich sagte der Leiter
"Einen Moment!", verschwand in sein Büro und kehrte
mit einem kleinen Buch zurück. "Also, wenn der 1. Mai
auf einen Donnerstag fällt, dann haben wir in der Vergangenheit
immer am Samstag vorher und am Mittwoch davor deutlich mehr benötigt,
aber am Freitag und Samstag danach weniger als normal..." Er
hatte sich in diesem Buch alle ungewöhnlichen Umstände
für seinen Supermarkt notiert Wissensartefakte von großem
Wert.
Es wäre
ungeschickt ihn zu bitten, diese Einträge statt in sein persönliches
Buch in eine Datenbank einzutragen wegen der geringeren Vertraulichkeit
würde er dort nur einen Bruchteil dokumentieren. Besser ist
es, ihn in regelmäßigen Abständen zu fragen, ob
man sein Buch nicht kopieren und die wichtigen Inhalte, eventuell
von einem Redaktionsteam überarbeitet, in eine Wissensdatenbank
stellen könne.
Natürliche
Begabungen hat jeder, aber nicht für alle Tätigkeiten.
Es gibt einfach Personen, die können etwas, das andere auch
durch beliebig viele Schulungen nicht lernen können. Manchen
Managern sagt man ein bestimmtes Gespür für den Markt
nach; sie entscheiden aus dem Bauch und auffallend oft richtig.
Natürliche Begabungen sind stilles Wissen in Extremform: Sie
lassen sich nicht weitervermitteln. Trotzdem kommt es in jedem Prozess
darauf an, die richtigen natürlichen Begabungen beteiligt zu
haben.
Während
es heute aber oft heißt "Das kann nur Frau Müller",
was eine Abhängigkeit von einer Person andeutet, ist es für
Unternehmen wichtig, konkret zu verstehen, welche natürlichen
Begabungen gefordert sind und welche Gruppen von Mitarbeitern darüber
verfügen. Wenn es dann heißt "Für dieses Projekt
benötigen wir jemand, der xyz besonders gut kann, etwa so wie
Frau Müller", ist die Abhängigkeit von Einzelpersonen
wesentlich reduziert.
Skills lassen
sich nur schwer übersetzen und sind am besten mit "Fähigkeiten"
zu umschreiben. Dabei kommt es in diesem Zusammenhang darauf an,
dass die Skills messbar im Sinne von Zeit und Qualität sind.
Skills sind zunächst stilles Wissen, sie lassen sich aber mit
einigen Abstrichen gut dokumentieren und schulen. Was Skills sind,
wird vielleicht aus folgendem Beispiel deutlich: Stellen Sie sich
vor, Sie wollten Ihr Badezimmer neu fliesen. Sie gehen also in einen
Baumarkt, besorgen sich ein Buch mit dem Titel "Die 10 Schritte
zum perfekten Fliesenleger" Skills und Erfahrungen von
einem erfahrenen Fachmann explizit gemacht , kaufen die Materialien
und legen los. Der Frust beginnt ungefähr nach 5 Fliesen, wenn
Sie bemerken, dass diese nicht gerade verlegt sind. Einige Fliesen
später entscheiden Sie, die bisher angebrachten herauszuschlagen
und noch einmal neu zu beginnen am nächsten Tag. Der
zweite Versuch sieht schon besser aus, aber immer noch nicht befriedigend.
Sie beschließen, dem Tipp eines Freundes Folge zu leisten
und einen Fachmann anzurufen. Nachdem sie schon mehrere Tage vergeudet
haben, sehen Sie dann dem Handwerker mit Begeisterung zu, wie er
in wenigen Stunden Ihr Bad fliest in wunderbarer Qualität.
Dieses Beispiel
zeigt, dass Sie es auch gekonnt hätten, aber in wesentlich
längerer Zeit und mit deutlich schlechterer Qualität.
Damit ist die Frage der vorhandenen Skills eine wesentliche, wenn
es um Planung geht: Eventuell kann eine vorgeschaltete Schulung
sinnvoller sein, als mit Amateuren zu beginnen. Ein oft gemachter
Fehler in Unternehmen ist, allein auf die Effektivität von
in Wissensdatenbanken abgelegten Skills und Erfahrungen zu vertrauen
und Mitarbeiter damit auf neue Projekte loszulassen: ein Heer von
Amateurfliesenlegern...
Erfahrungen
sind ein weiterer wichtiger Wissensfaktor, wobei zwei Dinge zu berücksichtigen
sind: Handelt es sich eher um eine Einzelperson- oder eine Gruppenerfahrung
ein Faktor, der im Investmentbanking in den letzten Jahren
zum Abwerben ganzer Abteilungen geführt hat und ist
die Erfahrung auf die neue Situation überhaupt übertragbar?
Erfahrungen sind zunächst stilles Wissen. Wenn sie nicht zu
komplex sind, können sie auch gut dokumentiert werden, was
allerdings nur dann Sinn macht, wenn es eine dem Aufwand entsprechende
Wiederverwendungswahrscheinlichkeit gibt.
Dazu ein weiteres
Beispiel aus einem Projekt: In einem größeren Unternehmen
ist aufgefallen, dass es zum Cash-Flow-Management ungewöhnlich
viele Heuristiken gab, nur wusste niemand warum. Im Projekt zeigte
sich, dass die drei wichtigsten Mitarbeiter der Finanzabteilung
vorher zusammen bei einem anderen Unternehmen waren, das Pleite
gemacht hatte. Diese Erfahrung hatte die drei so sensibilisiert,
dass sie von da ab ein sehr feinfühliges Frühwarnsystem
etabliert hatten und damit den Cash-Flow im neuen Unternehmen sehr
gut steuerten. Die Lehre daraus kann natürlich nicht sein,
dass man seine Firma nun alle 5 Jahre bankrott gehen lässt,
damit die Finanzabteilung den Cash-Flow beherrschen lernt...
Das HANSE-Modell in der Praxis
Wissen lässt
sich nicht direkt abfragen, sondern nur indirekt beobachten. So
wird etwa an Entscheidungspunkten immer deutlich, welches Wissen
tatsächlich benutzt wird, um die Entscheidung zu fällen.
Wenn Sie nun in einem Netz solcher Entscheidungspunkte an allen
Knotenpunkten jeweils die HANSE-Fragen stellen, werden Sie schnell
erkennen, welches Wissen wirklich benötigt wird und welches
Wissen im Sinne der HANSE-Komponenten in ausreichender oder auch
nicht ausreichender Form vorhanden ist.
Daraus lassen
sich dann Aktionspläne ableiten, um den Prozess unter Wissensgesichtspunkten
zu optimieren. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass man Wissensartefakte
von extern zukauft, Schulungen zum Skillaufbau ansetzt oder bessere
Heuristiken herausarbeitet, damit die Wissensmitarbeiter leichter
und schneller entscheiden können. Das kann auch heißen,
dass man identifizierte, leistungsstarke Wissensartefakte auch für
andere Prozesse zur Verfügung stellt. Dies alles sind konkrete
Aktionen, die nicht stupide dem Anspruch "Wissen in einer Wissensdatenbank
dokumentieren" folgen, sondern die vielmehr alltagstauglich
helfen, den Wissensfluss zu optimieren und eine Balance zwischen
stillem und explizitem Wissen zu finden. Mit Snowdens HANSE-Modell
wird Wissensmanagement somit auch für Pragmatiker ein Stück
greifbarer.
[1] Polanyi,
M.: The Tacit Dimension. Doubleday 1966 (Nachdruck 1983).
Nachdruck eines Auszugs in: Prusak, L. (Hrsg.): Knowledge in Organizations.
Butterworth-Heinemann 1997.
[2] Snowden,
D.: The ASHEN Model an enabler of action. In: Knowledge Management.
Band 3, Ausgabe 7, Seite 14-17. Ark Publications: London April 2000.
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