Fachbeiträge

Ausgabe 7 / /2000
Fachbeitrag Grundlagen & Theorien

Die richtige Balance zwischen stillem und explizitem Wissen

von Dr. Peter Schütt

Vielerorts geht man fälschlicherweise davon aus, dass das beste Wissensmanagement eines ist, bei dem möglichst viel des stillen Wissens aus den Köpfen der Mitarbeiter dokumentiert wird. Da der Aufwand für ein Unternehmen dafür jedoch nahezu unendlich ist, wäre das der sichere Weg in die Pleite. Peter Schütt stellt ein neues, praxisnahes Modell vor, das einen alltagstauglichen Mittelweg weist.

 

Von Peter

Schütt

 

 

Inhaltsübersicht:

 

Vielerorts

geht man fälschlicherweise davon aus, dass das beste Wissensmanagement

eines ist, bei dem möglichst viel des stillen Wissens in den

Köpfen der Mitarbeiter dokumentiert und allgemein zugänglich

in Datenbanken abgelegt wird. Da der Aufwand für ein Unternehmen

dazu jedoch nahezu unendlich ist, wäre das der sichere Weg

in die Pleite. Aber wie lässt sich ein sinnvoller Mittelweg

finden? Ein neues, praxisnahes Modell zeigt einen alltagstauglichen

Lösungsweg auf.

 

 

 


Sollte Wissen immer dokumentiert werden?

 

 

Reengineering

war die letzte Management-Welle in der alten Welt vor dem Beginn

von E-Business. Der Versuch, Unternehmen als mechanisches System

zu verstehen, hat zwar mancherorts geholfen, angestaubte Prozesse

aktuellen Gegebenheiten anzupassen, hat aber beim Downsizing auch

viel Wissen und viele Wissensaustauschstrukturen vernichtet. E-Business

war im Business Process Reengineering (BPR) noch nicht vorgesehen

und trifft die meisten Unternehmen deshalb heute unvorbereitet.

Durch die überraschend hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit und

-tiefe wird der Effekt verstärkt.

 

 

Die wichtigste

damit verbundene neue Anforderung an die Unternehmen ist die bisher

unbekannte Geschwindigkeit, mit der heute und in Zukunft Geschäfte

abgewickelt werden: Die Gartner Group hat herausgefunden, dass man

1997 noch zufrieden war, wenn geschäftliche Anfragen innerhalb

von einem halben Tag ihren Adressaten erreichten; dieser Zeitraum

ist in nur 2 Jahren bis 1999 auf 15 Minuten gesunken. Das erzeugt

einen entsprechenden Druck auf alle Unternehmen, denn die Zeit zu

reagieren sinkt parallel. Im Zweifelsfall muss eine Kundenanfrage

beantwortet sein, bevor die nächste Tunneldurchfahrt die Handy-Verbindung

abschneidet. Die Zeit zur Recherche schrumpft dramatisch. Die einfachste

Art darauf zu reagieren ist, das notwendige Wissen möglichst

präsent zu haben oder zumindest die Möglichkeit zu besitzen,

passende Informationen nur einen Mausklick entfernt zu finden.

 

 

 

Wissensmanagement

ist der Schritt, Ihr Unternehmen fit dafür zu machen. Allerdings

wird es allzu oft missverstanden als eine Methodik, jegliche in

irgendeiner Form wichtige Information in Wissensdatenbanken im Intranet

abzulegen. Leider gibt es eine Reihe von IT-Anbietern und Beratungsunternehmen,

die mangels entsprechender Produkte oder Lösungskonzepte alte

Office-Pakete, Publishing- oder klassische Dokumentenmanagement-Systeme

als die ultimative Wissensmanagement-Lösung anbieten.

 

 

Tatsächlich

können solche Systeme Teil einer Lösung sein. Vergessen

wird dabei aber, dass dieser Ansatz auch schon im BPR verfolgt wurde:

den Prozess sauber definieren, das zugehörige Wissen dokumentieren,

in einer Datenbank ablegen und damit allen zur Verfügung stellen.

Vermutlich haben auch Sie Ihre BPR-Erfahrungen gemacht, und wenn

Sie Glück hatten, gehören Sie zu den ca. 30% der Unternehmen,

die ihr BPR-Projekt erfolgreich abgeschlossen haben. Alle anderen

sind genau an diesem Punkt gescheitert oder stecken geblieben: Das

Geschäftswissen ist viel zu dynamisch und komplex, um vollständig

in Datenbanken abgelegt werden zu können. Dass es in einzelnen

Bereichen funktioniert – etwa einer Telefon-Hotline zu einer

limitierten Anzahl von Personalcomputern – ist dabei kein Widerspruch.

 

 

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Stilles Wissen – nur ein sperriger Begriff?

 

 

Wer etwas cleverer

war oder die besseren Berater hatte, hat verstanden, dass es neben

dem expliziten, kodierten und damit auch dokumentierten Wissen noch

eine andere Form gibt: das stille Wissen (tacit knowledge), das

in den Köpfen der Mitarbeiter steckt. Dieses kann man natürlich

nicht über eine Suchmaschine finden – wobei Yellow Pages

ein Ansatz hierzu sind – und man kann es auch nicht einfach

verteilen, denn es lässt sich nicht an eine E-Mail anhängen.

Auch wenn das Konzept einfach erscheint, so war die in unseren zahlreichen

Wissensmanagement-Projekten im fortgeschrittenen Projektverlauf

auftauchende Frage "... und wie kriegen wir das nun in eine

Datenbank?" immer ein klares Indiz, dass die Notwendigkeit,

stilles Wissen ganz anders zu managen letztlich doch nicht verstanden

oder akzeptiert worden war.

 

 

 

Die von Michael

Polanyi [1] in seinen

Vorlesungen an der Yale Universität im Jahr 1962 eingeführte,

höchst sinnvolle Trennung der beiden Wissenszustände hat

sich damit als für die Praxis zu sperrig erwiesen. Die Frage

nach der richtigen Balance zwischen stillem und explizitem Wissen

in einem Geschäftsprozess ließ sich nicht einfach genug

beantworten.

 

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Das HANSE-Modell

 

 

 

Aus diesem

Grund hat Dave Snowden, Europa-Direktor des Instituts für Knowledge

Management, Polanyis Konzept weiterentwickelt. Sein Modell heißt

als Mnemonik HANSE (im englischen Sprachraum ASHEN), wobei die Buchstaben

für

 

  • Heuristiken
  • Artefakte
  • natürliche Begabung
  • Skills und
  • Erfahrungen

 

stehen [2].

In diese Komponenten zerlegt, lässt sich Wissen wesentlich

einfacher aufdecken und handhaben.

 

gschuett picture

Mit dem HANSE-Modell wird Wissen in fünf Komponenten zerlegt, die in der alltäglichen Praxis leichter greifbar sind. Damit wird es einfacher, Wissensflüsse zu bewerten oder zu optimieren.

 

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Heuristiken

 

 

Heuristiken

sind oft einfache Daumenregeln, nach denen Ihr Geschäft läuft.

Beispiele wären "Bei Beträgen unter x DM kann jeder

Abteilungsleiter selbst entscheiden" oder "Willst Du Unterstützung

vom Chef für ein komplexes Projekt, frage ihn nie am Montag".

Manche Heuristiken sind z.B. als Verfahrensanweisung dokumentiert,

andere kennt man im Unternehmen seit Jahren, ohne dass sie irgendwo

niedergeschrieben sind. Damit können sie sowohl explizites

als auch stilles Wissen des Unternehmens sein.

 

 

 

Ähnlich

wie im komplexen Straßenverkehr, wo einfache, leicht merkbare

Regeln helfen, sind Heuristiken im Geschäftsalltag ideal, um

mit der zunehmenden Komplexität umzugehen und Wissen zu verbreiten.

So befähigt können Entscheidungen durch Mitarbeiter auch

bei unsicherer Informationslage deutlich schneller fallen –

ein wichtiges Kriterium, um im Zeitalter von E-Business vorne mitzuspielen.

 

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Artefakte

 

 

Artefakte sind

dokumentierte Wissensbausteine und damit immer explizit. Das heißt

aber nicht zwingend, dass diese im IT-System auf Datenbanken abgelegt

sein müssen. Als Beispiel sei ein Erlebnis bei einem unserer

Projekte in einer Supermarktkette angeführt: In einem der Shops

wurde zwischen dem Leiter und dem Disponenten diskutiert, welche

täglichen Frischwaren in welchen Mengen vor dem variablen Feiertag

1. Mai zu bestellen wären. Plötzlich sagte der Leiter

"Einen Moment!", verschwand in sein Büro und kehrte

mit einem kleinen Buch zurück. "Also, wenn der 1. Mai

auf einen Donnerstag fällt, dann haben wir in der Vergangenheit

immer am Samstag vorher und am Mittwoch davor deutlich mehr benötigt,

aber am Freitag und Samstag danach weniger als normal..." Er

hatte sich in diesem Buch alle ungewöhnlichen Umstände

für seinen Supermarkt notiert – Wissensartefakte von großem

Wert.

 

 

 

Es wäre

ungeschickt ihn zu bitten, diese Einträge statt in sein persönliches

Buch in eine Datenbank einzutragen – wegen der geringeren Vertraulichkeit

würde er dort nur einen Bruchteil dokumentieren. Besser ist

es, ihn in regelmäßigen Abständen zu fragen, ob

man sein Buch nicht kopieren und die wichtigen Inhalte, eventuell

von einem Redaktionsteam überarbeitet, in eine Wissensdatenbank

stellen könne.

 

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Natürliche Begabungen

 

 

 

Natürliche

Begabungen hat jeder, aber nicht für alle Tätigkeiten.

Es gibt einfach Personen, die können etwas, das andere auch

durch beliebig viele Schulungen nicht lernen können. Manchen

Managern sagt man ein bestimmtes Gespür für den Markt

nach; sie entscheiden aus dem Bauch und auffallend oft richtig.

Natürliche Begabungen sind stilles Wissen in Extremform: Sie

lassen sich nicht weitervermitteln. Trotzdem kommt es in jedem Prozess

darauf an, die richtigen natürlichen Begabungen beteiligt zu

haben.

 

 

Während

es heute aber oft heißt "Das kann nur Frau Müller",

was eine Abhängigkeit von einer Person andeutet, ist es für

Unternehmen wichtig, konkret zu verstehen, welche natürlichen

Begabungen gefordert sind und welche Gruppen von Mitarbeitern darüber

verfügen. Wenn es dann heißt "Für dieses Projekt

benötigen wir jemand, der xyz besonders gut kann, etwa so wie

Frau Müller", ist die Abhängigkeit von Einzelpersonen

wesentlich reduziert.

 

 

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Skills

 

 

Skills lassen

sich nur schwer übersetzen und sind am besten mit "Fähigkeiten"

zu umschreiben. Dabei kommt es in diesem Zusammenhang darauf an,

dass die Skills messbar im Sinne von Zeit und Qualität sind.

Skills sind zunächst stilles Wissen, sie lassen sich aber mit

einigen Abstrichen gut dokumentieren und schulen. Was Skills sind,

wird vielleicht aus folgendem Beispiel deutlich: Stellen Sie sich

vor, Sie wollten Ihr Badezimmer neu fliesen. Sie gehen also in einen

Baumarkt, besorgen sich ein Buch mit dem Titel "Die 10 Schritte

zum perfekten Fliesenleger" – Skills und Erfahrungen von

einem erfahrenen Fachmann explizit gemacht –, kaufen die Materialien

und legen los. Der Frust beginnt ungefähr nach 5 Fliesen, wenn

Sie bemerken, dass diese nicht gerade verlegt sind. Einige Fliesen

später entscheiden Sie, die bisher angebrachten herauszuschlagen

und noch einmal neu zu beginnen – am nächsten Tag. Der

zweite Versuch sieht schon besser aus, aber immer noch nicht befriedigend.

Sie beschließen, dem Tipp eines Freundes Folge zu leisten

und einen Fachmann anzurufen. Nachdem sie schon mehrere Tage vergeudet

haben, sehen Sie dann dem Handwerker mit Begeisterung zu, wie er

in wenigen Stunden Ihr Bad fliest – in wunderbarer Qualität.

 

 

 

Dieses Beispiel

zeigt, dass Sie es auch gekonnt hätten, aber in wesentlich

längerer Zeit und mit deutlich schlechterer Qualität.

Damit ist die Frage der vorhandenen Skills eine wesentliche, wenn

es um Planung geht: Eventuell kann eine vorgeschaltete Schulung

sinnvoller sein, als mit Amateuren zu beginnen. Ein oft gemachter

Fehler in Unternehmen ist, allein auf die Effektivität von

in Wissensdatenbanken abgelegten Skills und Erfahrungen zu vertrauen

und Mitarbeiter damit auf neue Projekte loszulassen: ein Heer von

Amateurfliesenlegern...

 

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Erfahrungen

 

 

Erfahrungen

sind ein weiterer wichtiger Wissensfaktor, wobei zwei Dinge zu berücksichtigen

sind: Handelt es sich eher um eine Einzelperson- oder eine Gruppenerfahrung

– ein Faktor, der im Investmentbanking in den letzten Jahren

zum Abwerben ganzer Abteilungen geführt hat – und ist

die Erfahrung auf die neue Situation überhaupt übertragbar?

Erfahrungen sind zunächst stilles Wissen. Wenn sie nicht zu

komplex sind, können sie auch gut dokumentiert werden, was

allerdings nur dann Sinn macht, wenn es eine dem Aufwand entsprechende

Wiederverwendungswahrscheinlichkeit gibt.

 

 

 

Dazu ein weiteres

Beispiel aus einem Projekt: In einem größeren Unternehmen

ist aufgefallen, dass es zum Cash-Flow-Management ungewöhnlich

viele Heuristiken gab, nur wusste niemand warum. Im Projekt zeigte

sich, dass die drei wichtigsten Mitarbeiter der Finanzabteilung

vorher zusammen bei einem anderen Unternehmen waren, das Pleite

gemacht hatte. Diese Erfahrung hatte die drei so sensibilisiert,

dass sie von da ab ein sehr feinfühliges Frühwarnsystem

etabliert hatten und damit den Cash-Flow im neuen Unternehmen sehr

gut steuerten. Die Lehre daraus kann natürlich nicht sein,

dass man seine Firma nun alle 5 Jahre bankrott gehen lässt,

damit die Finanzabteilung den Cash-Flow beherrschen lernt...

 

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Das HANSE-Modell in der Praxis

 

 

Wissen lässt

sich nicht direkt abfragen, sondern nur indirekt beobachten. So

wird etwa an Entscheidungspunkten immer deutlich, welches Wissen

tatsächlich benutzt wird, um die Entscheidung zu fällen.

Wenn Sie nun in einem Netz solcher Entscheidungspunkte an allen

Knotenpunkten jeweils die HANSE-Fragen stellen, werden Sie schnell

erkennen, welches Wissen wirklich benötigt wird und welches

Wissen im Sinne der HANSE-Komponenten in ausreichender oder auch

nicht ausreichender Form vorhanden ist.

 

 

 

Daraus lassen

sich dann Aktionspläne ableiten, um den Prozess unter Wissensgesichtspunkten

zu optimieren. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass man Wissensartefakte

von extern zukauft, Schulungen zum Skillaufbau ansetzt oder bessere

Heuristiken herausarbeitet, damit die Wissensmitarbeiter leichter

und schneller entscheiden können. Das kann auch heißen,

dass man identifizierte, leistungsstarke Wissensartefakte auch für

andere Prozesse zur Verfügung stellt. Dies alles sind konkrete

Aktionen, die nicht stupide dem Anspruch "Wissen in einer Wissensdatenbank

dokumentieren" folgen, sondern die vielmehr alltagstauglich

helfen, den Wissensfluss zu optimieren und eine Balance zwischen

stillem und explizitem Wissen zu finden. Mit Snowdens HANSE-Modell

wird Wissensmanagement somit auch für Pragmatiker ein Stück

greifbarer.

 

 

 

Literatur

 

 

 

[1] Polanyi,

M.: The Tacit Dimension. Doubleday 1966 (Nachdruck 1983).

Nachdruck eines Auszugs in: Prusak, L. (Hrsg.): Knowledge in Organizations.

Butterworth-Heinemann 1997.

 

 

[2] Snowden,

D.: The ASHEN Model – an enabler of action. In: Knowledge Management.

Band 3, Ausgabe 7, Seite 14-17. Ark Publications: London April 2000.

 

 

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